Dienstag, 20. Dezember 2011

Besinnlichkeit

Die nun folgende Kurzgeschichte schrieb ich, als ich 17 war. Damals für einen Schreibwettbewerb in der heimatlichen Presse. 
Für das erste Greifentelegramm des Verlages Land & Leute habe ich die Erzählung im November 2011 nochmals überarbeitet.

Den Weihnachtsmann gibt es…

Heute habe ich beschlossen, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Ich bin jetzt sieben und weiß das ganz genau. Die Geschenke kaufen immer Mama und Papa und verstecken sie im Keller. Am Weihnachtsabend, wenn meine Geschwister und ich im Kinderzimmer warten müssen, holt Papa sie dann hoch und macht einen Heidenlärm dabei. Letztes Jahr hatte ich vor dem Poltern und Schnauben noch Angst. Ich dachte immer, der Weihnachtsmann kommt gleich in unser Zimmer. Doch dieses Jahr nicht, denn den Weihnachtsmann, ja, den gibt es nicht!
Heute ist der 23. Dezember. Es schneit schon seit morgens, bitterkalt ist es und langsam bricht die Nacht herein. Papa hat das Sofa mit Zeitungen bedeckt und schneidet den Tannenbaum zurecht. So ganz will der nämlich nicht in unsere Wohnung passen. Der süßlich warme Duft der Tannen erfüllt den Raum. Ich sitze auf dem roten großen Sessel und schau ihm einfach zu. Vorfreude macht sich breit, denn gleich bin ich mit meiner Arbeit dran. Endlich, er ist fertig! Vorsichtig suche ich die Kugeln heraus. Eine silberne, eine rote, eine Schneemannfigur, ein Hexenhäuschen – Vorsichtig suche ich den Schmuck heraus und hänge ihn mit leicht zitternden Händen an den Baum. So lange bis kein Platz mehr ist! Dann sucht Papa Platz für die Lichterkette. Bei uns gibt es eine elektrische, keine echten Kerzen wie bei dem Nachbarskind. Hoffentlich, funktioniert sie, hoffentlich! Ein Weihnachtsbaum ohne Lichter ist ja kein echter Weihnachtsbaum. Mama kommt aus der Küche herein. Ihr folgt ein riesiger Schwall Essensduft: Süßlich, würzig, warm. Sie bereitet das Essen für den nächsten Tag vor. Sie steht im Türrahmen und beobachtet uns. Papa und ich sind endlich fertig, wir schauen sie an. Ein kritischer Blick und dann ein Lächeln von ihr. Wir haben es gut gemacht!
Am nächsten Tag wache ich erst gegen Mittag auf. Die Schneeflocken und der Frost der letzten Nacht haben seltsame Winterbilder an mein Fenster gemalt. Noch im Schlafanzug tapse ich mit nackten Füßen in die Wohnstube und betrachte den Weihnachtsbaum. Die Lichterkette ist noch aus. Doch heute Abend wird der Baum hell erstrahlen. Meine Geschwister werden dieses Jahr nicht da sein. Sie sind erwachsen und leben zu weit weg von uns. Nach dem Mittagessen ist es wie jeden Nachmittag an einem Wochenende. Ich lese ein Buch, Papa schläft etwas und Mama liest die Zeitung. Doch dann gehen wir zu Omi und Opi zum Kaffee. Fast alle meine Verwandte sind da: Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen. Die große Altbauwohnung glänzt. Der Weihnachtsbaum lässt seinen Tannenduft aus der einen Ecke verströmen, in der anderen knistert der Ofen. Es ist endlich Weihnachten! Es gibt süßen Kuchen, Plätzchen, Brause für uns Kinder und Kaffee für die Großen. Opi hat Zeit zum Toben. Er kitzelt uns Kinder, sitzt in seinem braunen Lederschaukelstuhl und schaukelt uns wild umher. Dann ruft Omi ihn. Einmal muss Schluss sein – sagt er und verschwindet lächelnd mit Omi im Schlafzimmer. Ich weiß, jetzt gibt es die Geschenke! Ich bin aufgeregt, denn die Geschenke wird es nicht einfach nur so geben. Mein Gedicht habe ich schon Tage vorher fleißig gelernt. Dann endlich nach einer halben Ewigkeit kommen meine Großeltern mit dem riesigen orangen Wäschekorb heraus. Er ist über und über mit Geschenken gefüllt. Jeder muss ein Gedicht aufsagen oder ein Lied singen, jeder bekommt etwas aus diesem Korb. Endlich bin ich an der Reihe. Mein Herz klopft so aufgeregt bin ich. Doch ich sage nichts falsch, kein Wort, keine Silbe. Bald nach der Bescherung verabschieden sie die Ersten. Auch meine Eltern und ich begeben uns auf den Weg nach Hause.
Der weiße pulvrige Schnee taucht die Landschaft in ein unwirkliches Licht. Es ist märchenhaft. In so einer Stimmung könnte man meinen, dass es den Weihnachtsmann doch gibt. Aber ich bleibe dabei: Den Weihnachtsmann gibt es nicht!  Ich sammle Schnee in meinem Handschuh, schmeiß ihn hoch, er rieselt sich in der Luft wiegend zu Boden, reflektiert das Licht der Straßenlaternen. So ist Weihnachten! Langsam drehe ich mich Richtung Stadtmauer. Da führt eine Treppe hinunter zur nächsten Straße. Nun komm schon – ruft Mama und dreht sich zu mir um. Jemand streift mich fast sacht an der Schulter. Tschuldigung – nuschelt er und läuft die Treppe runter. Mir fallen fast die Augen aus! Mein Mund steht offen. Ich glaub, ich träume. Mama, das war der Weihnachtsmann! – rufe ich. Ich bin wie erstarrt. Schaue meine Eltern fassungslos an. Ja, Schatz und er hat es heute sehr eilig – meint Papa schmunzelnd. Den Weihnachtsmann, den gibt es doch! Es gibt ihn und ich habe ihn gesehen!
Heute bin ich 17. Ich glaube nicht mehr an den Weihnachtsmann. Doch ein kleiner Weihnachtsmann steckt in jedem von uns. Wenn wir jemanden an Weihnachten überraschen, ein liebes Wort für andere übrig haben, dann sind wir der Weihnachtsmann. Den Weihnachtsmann gibt es noch!

Anja Goritzka

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