„Demmin
war überall!“
Über
die deutschlandweiten Selbstmorde im Frühling 1945
Greifswald/Demmin.
„Mit dem Rauch kam eine Unzahl vergewaltigter Frauen, teilweise noch stark
blutend, mit ein, zwei, drei, ja manchmal vier Kindern an der Hand in Trance,
leeren Blickes die Jarmener Chaussee heraufgewankt“, zitiert Florian Huber in
seinem Buch „Kind versprich mir, dass du dich erschießt – Der Untergang der
kleinen Leute 1945“ die Medizinstudentin Lotte-Lore Martens, die sich Anfang
Mai 1945 in Demmin aufhielt: „Wir sahen sie früher oder später rechts den Weg
Richtung Tollense einschlagen. Ein Aufhalten war nicht möglich. Massenpsychose.
Sie suchten also den Tod in den Fluten.“
Der
Historiker arbeitet anhand von Tagebucheinträgen und Zeitzeugenberichten die
Geschehnisse in der vorpommerschen Stadt zwischen Peene, Trebel und Tollense ab
dem 30. April auf. Detailgetreu berichtet er von dem, was sich vier Tage in der
Kleinstadt abspielte. Nachdem die deutsche Armee die Brücken gesprengt hatte
und die sowjetische Armee zusammen mit tausenden von Vertriebenen und
Einheimischen im Ort festsaß, kam es zu Vergewaltigungen von Frauen,
Plünderungen und die Innenstadt wurde niedergebrannt. Schätzungen zufolge
begangen an die 2.000 Menschen – Frauen mit ihren Kindern, Arbeiter,
Angestellte und Beamte, Einheimische und Flüchtlinge – Selbstmord: Sie
erschossen, vergifteten, erhängten sich und ihre Familienangehörigen, sie
versuchten sich die Pulsadern aufzuschneiden oder gingen in die Flüsse, die
überfluteten Wiesen und Torflöcher rund um Demmin, um sich zu ertränken. „Das
ist das fatale an Demmin gewesen: Die sowjetische Armee war eingesperrt, dabei
wollten auch sie schnell weiter. Und dann kam der 1. Mai. Einer der größten
Feste der Sowjets und die Soldaten wollten feiern. Dass es zudem ein Disziplinproblem
unter den Soldaten gab, ist mittlerweile hinreichend bekannt“, erklärt Huber
auf einer Lesung Ende März in Greifswald Beweggründe, die zu den Selbstmorden
in Demmin führten.
Florian Huber bei einer Lesung in Greifswald; Foto: Anja Goritzka |
Huber
geht aber noch weiter als bloß die Ereignisse in der Hansestadt nachzuzeichnen.
Er versucht die Ursachen der Geschehnisse, die sich am Ende des Zweiten
Weltkrieges durch ganz Deutschland zogen und vom Berliner Pfarrer Gerhard
Jacobi im Frühjahr 1945 erstmals als Selbstmordepidemie bezeichnet wurden, zu
ergründen. „Demmin war - in diesen Tagen – überall“, ist der Historiker
überzeugt. Gerade in den östlichen Gebieten spiele die Angst vor den Sowjets
durch die Propaganda des NS-Regimes ohne Zweifel eine große Rolle. Aber auch die
Ideologie des NS-Regimes selber: Anfangs den Selbstmord als Armutszeugnis darstellend,
wurde der Akt später als legitimes Mittel, dem Untergang des deutschen Volkes
zu entgehen, stilisiert. Huber versucht das Innere der Menschen zu ergründen. Er
erzählt vom Leben der einfachen Menschen in der Weimarer Republik, von den
Verheißungen und den Sehnsüchten, die mit dem Erstarken der Nazis wach wurden,
vom kollektiven Rausch der Bevölkerung und nicht zuletzt vom Ignorieren der
Realität bis sie langsam in die Köpfe sickerte und entweder verdrängt und
verschwiegen wurde oder zum Selbstmord führte.
Die „Selbstmordepidemie“
macht auch heute noch sprachlos. Öffentlich aufgearbeitet sind die Geschehnisse
noch lange nicht. Das Buch von Florian Huber „Kind, versprich mir, dass du dich
erschießt“ gibt einen Anlass zur Debatte und schafft auch Raum angemessen zu
trauern. „Vielleicht schweigen wir darüber, weil wir noch nicht genug getrauert
haben“, vermutete so auch ein Besucher der Greifswalder Lesung.
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Der Text erschien erstmals ohne Foto in dieser Fassung in der Mecklenburgischen & Pommerschen Kirchenzeitung vom 26. April 2015, Ausgabe 17, Seite 15. Autorin: Anja Goritzka
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